„Ein inklusives SGB VIII muss das unerschütterliche Ziel sein“ – Stellungnahme des BbP zur 5. Sitzung der Arbeitsgruppe „SGB VIII: Mitreden – Mitgestalten“

Heute und morgen tagt in Berlin ein weiteres Mal die Arbeitsgruppe „SGB VIII: Mitreden – Mitgestalten“ zur Reform der Kinder- und Jugendhilfe. In dieser 5. Sitzung im Bundesfamilienminsterium geht es am heutigen Dienstag (17.9.2019) von 11 bis 16.30 Uhr und am morgigen Mittwoch von 10 bis voraussichtlich 16 Uhr um die Themen „Mehr Inklusion / Wirksames Hilfesystem / Weniger Schnittstellen“.

Der Bundesverband behinderter Pflegekinder e.V. ist erneut durch seine Vorsitzende Kerstin Held vertreten, um ein weiteres Mal mit Nachdruck auf die fehlenden Regelungen für Pflegekinder mit Behinderung aufmerksam zu machen. Bereits im Vorfeld haben wir zur Arbeitssitzung diese Stellungnahme eingereicht:

Stellungnahme des Bundesverbandes behinderter Pflegekinder e.V.

Stellungnahme eingereicht durch: Kerstin Held (Vorsitzende des Bundesverbandes behinderter Pflegekinder e.V. in Abstimmung mit dem vertretungsberechtigten Vorstand des Bundesverbandes behinderter Pflegekinder e.V.)

Der Bundesverband behinderter Pflegekinder e.V. äußert sich in seiner Kompetenz und Fachlichkeit zum überreichten Arbeitspapier und möchte zu Beginn hervorheben, dass wir vorrangig Pflegepersonen sind. Wir erleben den Alltag in allen Facetten mit jenen Kindern, die auf besondere Rahmenbedingungen angewiesen sind. Nein, wir wollen sagen: Wir sind als Familie jeden Tag auf solche Rahmenbedingungen angewiesen.

Wie schon häufig in der Öffentlichkeit von mir gesagt, leisten unsere Familien den wohl inklusivsten Beitrag in unserer Gesellschaft. Jede Familie, die ein Kind mit besonderen Bedürfnissen in ihre Mitte aufnimmt und trägt, ist seit Jahrzehnten die selbstverständlichste Form der Inklusion. Hierbei ist nicht von Bedeutung, ob das Kind in Pflege lebt, adoptiert oder hineingeboren wurde.

Befragt man Familien von Kindern mit Behinderung, so bekommen wir immer wieder dieselben Antworten:

  1. Der „Behördenwahnsinn“ überfordert
  2. Immer nur kämpfen müssen
  3. Keine Entlastung und immer Rechtfertigung
  4. Zeitverlust für Familie und das Kind
  5. Wunsch nach Respekt und Anerkennung
  6. Kindergarten und Schule „ist ein gelebter Alptraum“

Inklusion ist ohne Zweifel ein Menschenrecht, und der Begriff „Inklusion“ sollte irgendwann in aller Selbstverständlichkeit verschwinden und einfach nur gelebt werden.

Wenn eine Familie entscheidet, ein Kind mit Behinderung bei sich aufzunehmen, um diesem eine Familie zu ermöglichen, müssen noch größere Hürden genommen werden. Die gesetzliche Lage für Kinder mit Behinderung in Pflegefamilien ist quasi nicht existent und fordert pro Fall eine Vereinbarung ohne Rechtssicherheit. Wir haben in vorangegangenen Stellungnahmen und Forderungen ausführlich auf die speziellen Belange von Familien mit behinderten Pflegekindern hingewiesen und die bestehenden Vollzugsdefizite aufgezeigt. Unsere Forderungen und Vorschläge zu gesetzlichen Ergänzungen sind eindeutig. Wir werden die Kernpunkte in dieser Stellungnahme zusammenfassend wiederholen.

Festzuhalten ist: Barrierefrei ist nicht behindertenbedarfsgerecht! Diese Schlussfolgerung ist wichtiger denn je. Viele Einrichtungen und besonders Schulen werden „inklusiv“, weil sie sich baulich barrierefrei aufstellen. Ein behindertengerechtes WC und rollstuhlpassierbare Türen machen keine inklusive Schule aus. Es muss viel weiter gedacht werden. Assistenz an Regelschulen sorgt derzeit eher für exklusive Isolation statt für Inklusion. Hier müssen andere Ansätze gefunden werden.

Aus dem Appell „Exklusion beenden: Kinder- und Jugendhilfe für alle jungen Menschen und ihre Familien!“, den wir als Verband mitgezeichnet haben:

Die Ungleichbehandlung von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien ist nach 10 Jahren UN-Behindertenrechtskonvention ein nicht mehr zu rechtfertigender Zustand. Deshalb haben Politik und Fachwelt die
Reforminitiative der letzten Legislaturperiode genutzt, sich innerhalb sowie zwischen den beiden Hilfesystemen von Jugend- und Behindertenhilfe in grundsätzlichen Fragen zu verständigen. Der im Koalitionsvertrag angelegte und vom BMFSFJ aktuell umgesetzte Weg eines breit angelegten Beteiligungsprozesses knüpft hieran an. Nach
diesem Diskussionsprozess »Mitreden – Mitgestalten« sind der Bund und die Länder gefordert, die Inklusive Lösung umzusetzen, durch die alle Kinder und Jugendlichen – mit und ohne Behinderungen bzw. unabhängig von der Art ihrer Behinderung – eine einheitliche gesetzliche Grundlage im Kinder- und Jugendhilferecht (SGB VIII) finden.

Ein Kind ist ein Kind! Es ist nicht länger vertretbar, dass Familien, die einem Kind mit Behinderung das Leben in einer Familie ermöglichen, mehr existenzielle und verwaltungsrechtliche Sorgen haben als um das Kind selbst. Ein behindertes Kind darf gegenüber einem nicht behinderten Kind nicht länger ein Verwaltungsakt sein!

Ein inklusives SGB VIII muss das unerschütterliche Ziel sein.

Dennoch sind wir davon überzeugt, dass es gesetzlich geregelter Zwischenschritte bedarf, die klare Fristen setzen. Der bisherige „Übergangsparagraph“ wurde immer dann wahrgenommen, wenn er drohte „abzulaufen“. An einer Lösung wurde wenig nachdrücklich gearbeitet. Der § 54 Abs. 3 SGB XII war ein „Beruhigungsparagraph“ mit Pausetastefunktion.

Das Arbeitspapier enthält viele gute Ansätze und Optionen für ein inklusives SGB VIII. Es war nicht immer eindeutig zu erfassen, ob die Optionen und Vorschläge alternative oder parallele Punkte darstellten. Speziell für die Pflegekinder mit Behinderung bleibt uns die stetige Wiederholung unserer Nahziele:

Solange die Zuständigkeit für Pflegekinder mit Behinderung beim Eingliederungshilfeträger nach SGB XII/SGB IX Teil 2 liegt, sollte die dargestellte Problematik durch ergänzende gesetzliche Regelungen beseitigt werden. Diese
müssen sicherstellen, dass

  • die pädagogische Fallführung für Familienpflege mit einem Kind mit Behinderung obligatorisch in der Hand des Jugendhilfeträgers liegt,
  • bundesweite Empfehlungen für die Familienpflege für Kinder mit Behinderung (Stichwort: Sonderbedarfe, Erziehungsbeitrag, Versicherung, Altersvorsorge Entlastung) einheitlich und verpflichtend umgesetzt werden,
  • Leistungssicherheit bei Zuständigkeitswechsel besteht,
  • inklusive Hilfeplanung mit allen involvierten Stellen (Stichwort: Teilhabeplanung) mind. einmal im Jahr durchgeführt wird,
  • bei einer Unterbringung außerhalb der Herkunftsfamilie immer die Möglichkeit der Familienpflege vorrangig geprüft wird (Art. 23 Abs. 5 UN-BRK),
  • gesicherte, fachlich qualifizierte und ausreichende Betreuungs- und Unterstützungsleistungen für die Familienpflege eines Kindes mit Behinderung zur Verfügung stehen (Stichwort: freie Träger der Sonderpflege, Fallmanager, …)
  • Zwangsübergänge aufgrund von Volljährigkeit bei Kindern mit Behinderung abgemildert werden und sich am Bedarf und Entwicklungsstand des jungen Menschen mit Behinderung orientieren.

Der bestehende § 80 SGB IX ist dafür in seiner bisherigen Form völlig unzureichend. Es bedarf dringend ergänzender gesetzlicher Regelungen, um die notwendigen Leistungen für Pflegekinder mit Behinderung bundesweit verbindlich festzuschreiben.

Um die Fallführung in der Kinder- und Jugendhilfe tatsächlich verorten zu können, bedarf es dringender Anpassung der personellen Strukturen. Die Fallzahl muss drastisch reduziert werden und die Fachkräfte müssen für die Beratung und Betreuung von Familien mit Kindern mit Behinderung befähigt werden. Es fehlen Qualitätsstandards und entsprechende Weiterbildungsmöglichkeiten. Auch im Bereich der Vormundschaften bestehen hier große Defizite im komplexen Wissen um Leistungen, Hilfen und Versorgung.

Aus unserer Sicht muss die Umsetzung eines inklusiven SGB VIII in Teilschritten (Stichwort: Inklusionspaket 1 bis x) mit konsequenten Fristen erfolgen. Verlängerungen der Verlängerungen dürfen nicht länger eine Option ein. Weiterhin müssen zu sofort Vollzugsdefizite in den bisherigen Systemen vermindert bzw. vermieden werden. Hier ist das nötige Wissen der Fachkräfte unabdingbar. Es braucht Curricula und Zertifizierungen für Fort- und Weiterbildungen. Es ist einem Jugendamt sicherlich möglich, z.B. einer sogenannten 8a-Meldung nachzugehen, jedoch ist dies bei Kindern mit Behinderung nur mit Hilfe von Fachkräften zu objektivieren. Die derzeitigen Fallzahlen in den Jugendämtern lassen eine individuelle Fallbetrachtung mit Beratung kaum zu.

Eine Umsetzung der genannten Forderungen ist dringendst notwendig. Pflegefamilien mit behinderten Kindern hängen derzeit immer weiter in der Luft, weil verbindliche Regelungen fehlen. Jeder Kampf um Unterstützung und Leistungen geht dabei auf Kosten der Kinder, denen die Zeit und Energie ihrer Pflegepersonen fehlt. Sie können helfen, dies durch eine gute Gesetzesänderung zügig umzusetzen. Darum bitten wir Sie als Pflegeeltern von Kindern mit Behinderung.

Anmerkung: Die im Arbeitspapier aufgeführten Handlungsoptionen sind für uns sehr schwer in einen Kontext zu bringen. Teilweise ist für uns nicht ersichtlich, ob die Optionen und Vorschläge alternativ oder ergänzend zueinanderstehen. Weiterhin ist nicht deutlich, welche Rolle das BMAS in der Ausarbeitung des Arbeitspapieres
eingenommen hat und ob hier eine Zusammenarbeit stattgefunden hat oder stattfinden wird. Daher werden wir in der Sitzung direkt Stellung zu den Einzelpunkten beziehen.

Kerstin Held (Vorsitzende des Bundesverbandes behinderter Pflegekinder e.V.)

Hier gibt es die Stellungnahme des BbP als PDF [237 KB].

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