Weiterhin Regelungslücken für Pflegekinder mit Behinderung

Stellungnahme des Bundesverbandes behinderter Pflegekinder e.V. zum Entwurf eines Gesetzes zur Ausgestaltung der Inklusiven Kinder- und Jugendhilfe

Vorbemerkung

Mit dem Reformprozess „Gemeinsam zum Ziel“ ist aus Sicht des Bundesverbandes behinderter Pflegekinder (BbP) e.V. ein Meilenstein gesetzt worden. Mit diesem Referentenentwurf zum inklusiven SGB VIII wurde eine bemerkenswerte Grundlage geliefert, die das Ergebnis der jahrelangen Begleitung und Einbringung der Expertise in die Praxis spiegelt.

Zunächst möchten wir betonen, dass der Beteiligungsprozess des Bundesfamilienministeriums aus unserer Sicht vorbildlich verlaufen ist. Es gab genügend Raum, um vielschichtigen Sachverstand in den Prozess einbringen zu können und in einer offenen Gesprächsatmosphäre miteinander zu diskutieren. An dieser Stelle möchten wir unsere Anerkennung und auch unseren Dank dem BMFSFJ und der Geschäftsstelle „Gemeinsam zum Ziel“ zum Ausdruck bringen.

Der BbP hat sich während des aktuellen Reformprozesses in unterschiedlichen Netzwerken und Projekten eingebracht. Sowohl im Selbstvertretungsrat des Bundes sowie im Think-Tank des Kindernetzwerks e.V. als auch in der Familienkonferenz, die im Rahmen des Beteiligungsprozess durchgeführt wurde, haben wir unsere Themen vertreten und lebensnah begründet. In den vorliegenden Stellungnahmen unserer Dachverbände finden sich viele unserer Themen und Positionen wieder, weshalb wir von einer Wiederholung absehen.

Kinder mit Behinderung finden mit diesem Entwurf grundsätzlich einen „guten Ort“ in der Gesetzgebung zur inklusiven Kinder- und Jugendhilfe. Im Bezug auf die spezielle Gruppe der Pflegekinder mit Behinderung allerdings weist der Referentenentwurf weiterhin bedeutende Regelungslücken auf. Diese wirken bereits jetzt auf die Lebenswirklichkeit von Pflegekindern mit Behinderung ein und führen zu Benachteiligungen, die mit einem künftigen Gesetz unbedingt vermieden werden sollten.

Im Folgenden möchten wir auf die Punkte eingehen, die aus unserer Sicht ergänzungsbedürftig sind:

1.
Dem Beispiel aus der Eingliederungshilfe folgend, braucht es auch in der Kinder- und Jugendhilfe eine verlässliche Finanzierung für Selbstvertretungsstrukturen. Darüber hinaus muss in der Systemlogik der Kinder- und Jugendhilfe das Paradigma der Stellvertretung in der Selbstvertretung ankommen, sodass auch stellvertretende Strukturen in der Förderung bedacht sind. Insbesondere die Strukturen der Selbsthilfe sind hierbei ein wesentlicher Bestandteil für die gelingende Selbstvertretung. Stellvertretung ist immer dann notwendiger Bestandteil der Selbstvertretung, wenn Kinder aufgrund ihrer Behinderung nicht in der Lage sind, sich selbst mitzuteilen. Sowohl (Pflege-)Eltern wie auch externe Personen können diese Rolle einnehmen.

2.
Über die Thematik der Selbstvertretung kommen wir zu der, aus unserer Sicht unverzichtbaren flexiblen Assistenz, die nicht an einen Fachbereich gebunden sein sollte. Vielmehr muss eine solche Assistenz im Ganzen gedacht werden und sich am gesamten Sozialraum orientieren. Neben der alltäglichen Begleitung im familiären Kontext, die für jedes Kind eine wünschenswerte Normalität darstellen sollte, ist ganzheitliche „Sozialraumassistenz“ als Ausgleich der Behinderung in den Lebensbereichen Bildung, Freizeit, soziale Teilhabe etc. zu verstehen.

Dies erwähnen wir, da im Kontext der Assistenzgewährung wiederholt auffällt, wie wenig der Perspektivwechsel zwischen den Bedarfen des Kindes und denen der Pflegeperson gelingt. So werden z.B. Assistenzen zweckfremd beantragt, um die allgemeine Überforderung der Pflegefamilie zu kompensieren oder eine Genehmigung verweigert, weil z.B. die bereits finanzierte Haushaltshilfe auch assistieren könnte. Eine Haushaltshilfe ist keine Assistenzkraft und Eltern erfüllen wiederrum eine eigene Aufgabe.

Hier ist eine Trennschärfe mit deutlichem Perspektivwechsel zur personenzentrierten Bedarfsermittlung unerlässlich! Nur so können Leistungen sachgerecht und angemessen ermittelt werden. Assistenz als sozialräumliche Begleitung, die über die Grenzen der Leistungssysteme fungieren, ermöglichen u.a. den sozial-emotionalen Transfer in unterschiedliche, alltägliche Lebensbereiche. Dies trifft insbesondere auf die jungen Menschen zu, die nicht selbstständig verbalisieren können, was sie bewegt.

3.
Im Bezug auf die Verfahrenslotsen freuen wir uns über die zu erwartende Entfristung, wie sie von uns zu Beginn des Prozesses vorgeschlagen wurde . Wir sind nach wie vor der Überzeugung, dass eine rechtskreisübergreifende Lotsenfunktion für eine zukünftige Weiterentwicklung inklusiver Strukturen notwendig sein wird. Bereits jetzt haben einige Kommunen die Lotsen als Inklusionslotsen übergreifend verortet. Eine alleinige Zuordnung im Jugendamt per Gesetz halten wir für hinderlich.

4.
In diesem Zusammenhang halten wir eine fachliche Beteiligung sämtlicher Instanzen am Hilfe- und Leistungsplan für zwingend erforderlich. Eine Beteiligung der Krankenkasse am Hilfe- und Leistungsplan ist ebenso sinnvoll wie notwendig, da alle gesundheitsbezogenen Bedarfe des Kindes in deren Leistungsrecht verortet sind.

Unsere Verwunderung besteht darin, dass die Hinzuziehung der Pflegekasse deutlich benannt worden ist, die der Krankenkasse jedoch nicht. Dies lässt die Vermutung zu, dass es sich hier um die Idee einer Kostenbeteiligung durch die Pflegekasse handeln könnte. Wir möchten an dieser Stelle wiederholt deutlich machen, dass die Pflegegeldleistung der Pflegekasse mit keiner anderen Leistung zu verrechnen ist. Auch Leistungen aus dem Pflegentlastungsbudget (neu seit 2024) können nur zu bestimmten Zwecken verrechnet werden.

Keine gesetzliche Veränderung darf dazu führen, dass das Bundesverwaltungsgerichtsurteil vom November 2017 an Rechtsgültigkeit verliert. Hier wurde deutlich benannt, dass eine Anrechnung des Pflegegeldes der gesetzlichen Pflegeversicherung auf den zu gewährenden Erziehungsbeitrag für die Kosten der Pflege und Erziehung des Pflegekindes nicht zulässig ist. Ebenso darf das Hinzuziehen der Pflegekasse nicht dazu führen, eine Priorisierung der Hilfearten herbeizuführen (Pflege oder Erziehungsauftrag).

Eine Zuständigkeitsverschiebung entlang der Frage, ob es sich um einen primär pflegerischen oder einen erzieherischen Auftrag handelt, ist nicht im Sinne des Kindes. Jedes Kind hat ein Recht auf pädagogische Begleitung, und dies ist nicht in einer Priorisierung zu werten. Eine Hinzunahme aller beteiligten Leistungsträger führt letztlich allerdings auch dazu, dass tatsächlich zweckgleiche Leistungen und Zuständigkeitsverschiebungen vermieden werden können.

5.
Die Idee des gesetzlichen Vorrangs der inklusiven Leistungen ist aus der Sicht der Kinder- und Jugendhilfe nachvollziehbar. Zugleich braucht es für gelungene Inklusion aus Sicht des BbP sowohl inklusive wie auch exklusive Räume. Die Spezialisierung einzelner Leistungsanbieter trägt zu einer passgenauen Versorgung bei. Die inklusive Öffnung aller Angebote, welche sowohl auf Angebote der Kinder- und Jugendhilfe als auch der Eingliederungshilfe abzielt, kann zu einer Verallgemeinerung führen, die nicht im Sinne der Adressaten ist.

6.
Der von uns langjährig geforderte „§ 35a+“, als Paragraf für alle Kinder mit Behinderung hat Einzug in den Gesetzesentwurf gefunden, und ist für uns persönlich der größte Meilenstein in der Beteiligungsgeschichte des BbP.

Leider ist erneut die spezifische Bedarfslage von Pflegekindern mit Behinderung nicht ausreichend berücksichtigt worden. Es ist ein Trugschluss, dass eine Regelung für alle Kinder mit Behinderung auch alles für Pflegekinder mit Behinderung berücksichtigt. Durch den Auftrag aus der öffentlichen Hand, welcher von der Pflegefamilie geleistet wird, kommt es zu Wechselwirkung mit dem Hilfesystem.

In dem Zuge des neuen § 35 brauchen Pflegekinder mit Behinderung die zwingende Ergänzung zur Sicherung des Übergangs zur Unterbringung in Pflegefamilien im Erwachsenalter (Verweis auf § 80 SGB IX). In der Praxis kommt es häufig zur Umwandung in das Gastfamilienmodell, was zu erheblichen Leistungsverlusten führt, obwohl sich der Bedarf nicht geändert hat. Die Praxis zeigt dies hinlänglich.

7.
Für den § 33 braucht es eine deutliche Benennung der Kinder mit wesentlicher Behinderung, wie sie auch im § 35a benannt werden. Dies lässt einen unmissverständlichen Rückschluss auf das Leistungsrecht nach § 35a zu und definiert die besondere Pflegeform für diese Kinder und dessen Eignung eindeutiger.

Darüber hinaus fordern wir weiterhin die vorrangige Unterbringung in Pflegefamilien für Kinder mit Behinderung, die 2009 in einem Übergangsparagrafen festgeschrieben wurde. Im dem bis 2020 gültigen und erstritten § 54 Abs. 3 SGB XII wurde der Anspruch auf Pflegefamilien für Pflegekinder mit Behinderung gesetzlich normiert und eine deutliche Vorrangigkeit gegenüber der Heimunterbringung formuliert:

„Eine Leistung der Eingliederungshilfe ist auch die Hilfe für die Betreuung in einer Pflegefamilie, soweit eine geeignete Pflegeperson Kinder und Jugendliche über Tag und Nacht in ihrem Haushalt versorgt und dadurch der Aufenthalt in einer vollstationären Einrichtung der Behindertenhilfe vermieden oder beendet werden kann.“

Wir möchten den Verlust dieser Vorrangigkeit nicht länger hinnehmen müssen!

9.
Der Zuständigkeitswechsel des Jugendamtes nach § 86 Abs. 6 muss angepasst werden! Aus der jahrelangen Vermittlungshilfe für Jugendämter wissen wir, dass die bundesweite Unterbringung von Pflegekindern mit Behinderung die Normalität ist. Nicht selten haben spezialisierte Pflegefamilien zwei oder drei Kinder mit Behinderung aus verschiedenen Bundesländern. Außerdem verlagern sich die Lebensmittelpunkte der Pflegefamilien häufig in den ländlichen Raum. Diese Verlagerung lässt sich durch bezahlbaren und behindertengerechten Wohnraum erklären. Weiterhin orientieren sich Pflegefamilien an bedarfsgerechter Infrastruktur (Fachärzte, Kliniken, Schulen, etc…). Um „Verwaltungshotspots“ zu vermeiden, behält die Eingliederungshilfe die Leistungspflicht an dem Ort, wo die Hilfe entstanden ist.

Die Begleitung eines Kindes mit Behinderung in einem Jugendamt bindet viele Ressourcen. Für kleinere Jugendämter im ländlichen Raum kann dies zu erhöhten Fallaufkommen und damit zusammenhängenden Versorgungsschwierigkeiten führen.

Der Zuständigkeitswechsel nach zwei Jahren gemäß § 86 Abs. 6 ist für Kinder ohne wesentliche Behinderung sicherlich ein sinnvoller Schritt. Im Falle von Kindern mit wesentlichen Behinderungen führt dies jedoch zu großen Herausforderungen und regelmäßig auch zu Benachteiligungen:

  • Überforderung von fachlichen Ressourcen in Ballungszentren (z.B. ländliche Regionen)
  • Nicht selten haben Pflegefamilien von Kindern mit Behinderung mehr als ein Kind. Dadurch werden vor Ort wenig planbare Ressourcen gebunden.
  • Es kommt zu Vermeidungsstrategien, wie die Verweigerung der Pflegeerlaubnis nach § 44, um weiteren arbeitsintensiven Fällen in der eigenen Region entgegenzuwirken.
  • Verlust von Leistungen und Beratungsstrukturen der Pflegefamilie bei Fallübernahme, wie z.B. der Verlust des freien Trägers, Anpassung an ortsübliche Leistungen
  • Bewusste Auswahl von Wohnorten mit hohen Leistungen, um diese entsprechend zu beanspruchen und somit Schaffung von erhöhtem Fallaufkommen
  • Auch wenn § 86 Abs. 6 eine Kostenerstattung an das abgebende Jugendamt rechtfertigt, wird dadurch nicht die fachliche Ressourcenbindung kompensiert.

Die hier aufgeführten Problemstellungen sind uns aus unserer Beratungspraxis bekannt und stellen für die Unterbringung von Pflegekindern mit Behinderung immer wieder eine Hürde dar.

Wir bitten eindringlich, von einen Fallübernahmeverzicht bei Kindern mit erheblichem Teilhabebedarf im Kontext des § 86 Abs. 6 durch entsprechende Benennung abzusehen.

10.
Ebenfalls ein vom Bundesverband seit Jahren getragenes Thema ist die Erweiterung des Fachkräftegebotes hin zu Professionen aus der Pflege, Heilpädagogik, Heilerziehungspflege sowie Therapie und Rehabilitation. Die besondere persönliche Eignung muss ebenfalls Anerkennung finden.
Dadurch werden Kompetenzen in die Kinder- und Jugendhilfe getragen, die zu einer inklusiven Fallbegleitung führen.

Die besondere persönliche Eignung muss in der Praxis noch häufiger in den Vordergrund gestellt werden, wenn es um die Arbeit mit Pflegekindern mit Behinderung geht (Kompetenz vor Qualifikation).

11.
Ein abschließender, für unsere Familien schwerwiegender Punkt ist der Tod eines Pflegekindes. In vorangegangenen Stellungnahmen sowie in der Anhörung zur Vormundschaftsreform haben wir zum wiederholten Mal um Anpassung des BGB und des Bestattungsrechts gebeten. Da mit dem Tod des Kindes die Vormundschaft erlischt, ist nur der Rückschluss auf die Herkunftsfamilie möglich. Auch kann ein Kind selbstverständlich keine Vorsorgevollmacht erstellen, die dessen Bestattung vorab regelt. Die Beisetzung der Pflegekinder mit Behinderung gestaltet sich insbesondere für Pflegefamilien, die keinen guten oder gar keinen Kontakt mit der Herkunftsfamilie haben, bislang häufig als äußerst traumatisierend.

Auf diese Problematik gehen wir in diesem Rahmen nur marginal ein, da es keine direkte Implikation für das SGB VIII hat. Doch führen wir sie wiederholt ins Feld, da sich aus dieser Thematik nach wie vor ein großer Leidensdruck für unsere Familien ergibt.

Fazit

Wir wünschen uns sehr, dass auch unsere ergänzenden Anregungen aus diesem Schreiben noch Einfluss ins Gesetz finden. Für Pflegekinder mit Behinderung und ihre Familien sind diese von zentraler Bedeutung. Wir zählen hier auf Ihre Mithilfe.

Papenburg, den 02.10.2024

Kerstin Held, Vorsitzende des BbP e.V.

 

Hier finden Sie unsere Stellungnahme als PDF [2 MB].

Zurück zur Übersicht