„Pflegefamilien werden in der Pandemie alleingelassen“

Umfrage unter Pflegeeltern offenbart fehlende Unterstützung und vereinzelte Leistungskürzungen in der Coronazeit

In der Corona-Pandemie stehen gerade Pflegefamilien besonderen Herausforderungen gegenüber. An Unterstützung mangelt es allerdings – trotz des staatlichen Auftrags – ganz erheblich, offenbart jetzt eine Umfrage unter Pflegeeltern. Während 37 Prozent die Begleitung durch den zuständigen Pflegekinderdienst in der Pandemie als „hilfreich“ empfanden, bezeichneten 64 Prozent diese als „wirkungslos“. Die Erreichbarkeit ihrer Sachbearbeiter stuften die Teilnehmer im Mittelfeld ein. An der Online-Umfrage der Bundesinteressengemeinschaft der Pflegefamilienverbände (BiP) beteiligten sich von Mitte März bis Mitte April 2021 insgesamt 784 Pflegeeltern aus dem gesamten Bundesgebiet.

Hier geht es zur Pressemitteilung zur Corona-Umfrage unter Pflegeeltern

Und hier gibt es

die kompletten Ergebnisse der Umfrage:

Papenburg, den 18. Mai 2021

Auf Initiative des Bundesverbandes behinderter Pflegekinder e.V. (BbP) hat die Bundesinteressengemeinschaft der Pflegeelternverbände (BiP) zwischen dem 21. März und dem 19. April 2021 eine umfangreiche Onlinebefragung unternommen. Der PFAD Bundesverband e.V. (ebenfalls Mitglied der BiP) hat dafür durch Carmen Thiele einen Fragenkatalog erstellt, der gemeinsam mit der Geschäftsstelle des BbP e.V. in Abstimmung mit der AGENDA eingepflegt wurde.

Die Umfrage umfasste 31 Fragen zu unterschiedlichen Schwerpunkten.
Es wurden 784 Beantwortungen durch Pflegepersonen gesammelt. Davon haben 777 alle Fragen aus ihrer Sicht beantwortet.
Die Fragen zur Bereitschaftspflege wurden von durchschnittlich 395 Teilnehmenden beantwortet. Nicht zutreffende Fragen wurden von den Teilnehmenden entsprechend übersprungen.

Die offenen Fragen (9 Fragen) sind, so haben wir hinterher gemerkt, durch uns zu unspezifisch gestellt worden. Die Auswertung war sehr umfangreich und bot weniger harte Daten. Dennoch sind wichtige Erkenntnisse daraus gewonnen worden. Es wurden 4.238 offene Antworten zu 9 Fragestellungen erfasst und ausgewertet.

Ergebnisse der 31 Fragen (F1 bis F31) in der Zusammenfassung:

– F1 Die überwiegende Mehrheit hat ein (52,4 %) bis zwei (30,9 %) Pflegekinder aktuell in der Familie lebend.
– F2 Die Altersstruktur von 0 bis 18 Jahre ist überraschend gleichmäßig verteilt. Eine leichte Häufung ist in der Altersgruppe 3 bis 12 Jahre zu finden.
– F3 55,5 % der Kinder in den Familien haben eine anerkannte Behinderung.
– F4 56,4 % der Kinder haben einen Pflegegrad nach den gesetzlichen Vorgaben.
– F5 Die meisten Pflegeverhältnisse werden durch das örtliche Jugendamt (69,9 %) begleitet, über ein Viertel (28,7 %) durch einen freien Träger der Jugendhilfe.
– F6 Die persönliche Erreichbarkeit des begleitenden Trägers während der Coronapandemie lag bei 46,9 %. Telefonisch und per E-Mail scheint die Erreichbarkeit gut zu sein (über 90 %)
– F7 Die Familien schätzen die gesamte Erreichbarkeit ihres Trägers auf einer Skala von 0 (sehr schlecht) bis 10 (sehr gut) mit 6 ein. Für 6,6 % ist dagegen niemand erreichbar.
– F8 Für mehr als die Hälfte der Familien liegt das letzte Hilfeplangespräch länger als sechs Monate zurück. Davon haben 22,1 % länger als ein Jahr kein Hilfeplangespräch mehr gehabt.
– F9 Mehr als zwei Drittel der Befragten bekommen innerhalb einer Woche eine Antwort auf ihre Rückfragen bei ihrem Träger, der Krankenkasse oder einer Behörde.
– F10 Die Begleitung des Pflegekinderdienstes während der Coronapandemie bewerten 64,2 % als wirkungslos. Mehr als ein Drittel empfindet es hilfreich.
– F11 Etwa 20 % der Befragten brauchten bisher keinerlei Anträge aus Sozialleistungen in der Pandemie zu stellen oder haben keine gestellt. Mehr als die Hälfte der Familien sind aus ihrer Sicht über die Antragsmöglichkeiten nicht aufgeklärt worden oder haben keinen Ansprechpartner, weil die Zuständigkeit ungeklärt ist. Fast ein Viertel reichte Anträge ein, die zum größten Teil sehr lange Bearbeitungszeiten hatten (teilweise bis zu einem Jahr und länger).
– F12 Spezielle Anträge beim zuständigen Jugendamt für Kinderbetreuung und Hilfen in Coronazeiten wurden von etwa einem Drittel der Familien gestellt und beschieden. 66,2 % haben keine Anträge gestellt.
– F13 Der Anteil der Notbetreuung von Pflegekindern in der Pandemie liegt bei 29,6 %.
– F14 63,8 % der Familien haben sich keine Gedanken über eine Regelung / Absprache bei Ausfall der Pflegeperson durch Corona gemacht. Lediglich 2,0 % haben Absprachen mit ihrem zuständigen Träger.
– F15 20,4 % der Familien haben während der Coronapandemie ein Kind aufgenommen.
– F16 In nur 5,4 % dieser Fälle war vor der Aufnahme des Kindes bekannt, ob am bisherigen Lebensort des Kindes eine Coronatestung durchgeführt wurde.
– F17 In nur 2,2 % der Fälle gab es eine Teststrategie zur Vorbeugung einer SARS-CoV-2-Infektion bei Aufnahme des Kindes.
– F18 Von allen befragten Familien sind 17,0 % auch oder ausschließlich Bereitschaftspflegefamilien.
– F19 89 von 133 Familien haben in der Pandemie Kinder in Obhut genommen. 2 Kinder wurden vor der Aufnahme auf SARS-CoV-2 getestet. 88 Familien haben keine Hygienekonzepte oder Testmöglichkeiten zur Verfügung gestellt bekommen. Auch die Kontakte mit den leiblichen Eltern der Kinder fanden ohne Testung und mit unzureichenden Hygienekonzepten statt.
– F20 Etwa 50 % der Kinder in Bereitschaftspflegefamilien hatten während der Pandemie keinen Elternkontakt.
– F21 Etwas über ein Drittel der Bereitschaftspflegefamilien hatte Kontakt zum Familiengericht in der Pandemie. Die meisten von ihnen (51 von 63) beklagten lange Terminverschiebungen.
– F22 Während der Pandemie wurde etwa die Hälfte (60 von 133) der Bereitschaftspflegeverhältnisse wieder beendet. Es kam zu Rückführungen oder dauerhaften Fremdunterbringungen. In 75 % der Fälle wurde die Überleitung des Kindes durch die Familie selbst organisiert. Es fanden aus Infektionsschutzgründen kaum Anbahnungen statt.
– F23 Von allen Familien, die diese Frage beantwortet haben (774), haben 40,3 % der Kinder keinen Kontakt zur Herkunftsfamilie. 39,0 % haben begleitete Umgänge durch den Träger.
– F24 Die überwiegende Mehrheit der Befragten hat Angst vor Ansteckung bei Umgangskontakten.
– F25 Es gibt bei 95,8 % keine Teststrategie oder Testung auf SARS-CoV-2 für Umgangskontakte.
– F26 Das selbstorganisierte Arbeitgebermodell für Entlastung, Assistenz und / oder Pflege findet in 119 Pflegefamilien Anwendung. Somit sind etwa 15 % der Befragten selbst Arbeitgeber.
– F27 Assistenz- und Entlastungsdienste durch einen externen Anbieter nehmen 197 Familien in Anspruch. Dies entspricht etwa 20 % aller befragten Familien.
– F28 In der Priorisierung für eine Coronaimpfung sind 75,5 % der Pflegefamilien nicht erfasst.
– F29 95,6 % haben durch ihren Träger keinerlei Coronabeihilfe, Hygienemaßnahmen, Testungen, Impfaufklärungen oder Hilfe z.B. zum Homeschooling erhalten.
– F30 Folgende Hilfen wurden gewährt:
21 Familien erhielten einmalige Geldzuwendung zwischen 100 und 500 Euro.
17 Familien durften Schulbegleiter in Entlastung zuhause umwandeln.
8 Familien wurden Leistungen gekürzt, weil das Kind nicht zur Schule ging.
6 Familien Zuschuss für digitale Medien
3 Familien konnten die Schulbegleitung für Homeschooling nicht umwidmen.
2 Familien erhielten Hilfe bei der Unterbringung in der Notbetreuung.
1 Familie erhielt eine Bescheinigung zur Impfung mit Priorisierung.
– F31 Etwa 17% der Familien melden Versorgungsengpässe bei Medikamenten, Hygieneartikeln und Hilfsmitteln an.

Auswertungstext (Prozentzahlen sind gerundet):

Pflegefamilien / Bereitschaftspflege grundsätzlich:

In den überwiegend Ein- und Zweikindfamilien (Pflegefamilien) leben Kinder aller Altersklassen. Über die Hälfte der Kinder hat eine anerkannte Behinderung, etwas mehr einen Pflegegrad. Die meisten Pflegeverhältnisse (70 Prozent) werden durch die örtlichen Jugendämter begleitet, weitere 28 Prozent durch einen freien Träger. Alle befragten Familien schätzten die Erreichbarkeit ihres Pflegekinderdienstes als durchschnittlich ein (6 von 10 Punkten). Mehr als ein Drittel empfindet die Begleitung ihres Pflegeverhältnisses in der Coronapandemie als hilfreich. 64 Prozent empfinden die Begleitung jedoch als wirkungslos.

Antragsverfahren und Familiengerichtsprozesse werden als langwierig beschrieben. Manche Anträge sind schon länger als ein Jahr ohne rechtsmittelfähigen Bescheid offen.

Der Anteil der Kinder in Notbetreuung in der Coronapandemie liegt bei 30 Prozent. Einigen Familien wurde die Notbetreuung verwehrt, da sie selbst ein Betreuungssystem mit öffentlichem Auftrag sind (so Aussagen der Träger).

In 20 Prozent der Familien wurden während der Pandemie ein oder mehrere Kinder aufgenommen. In nur 2 Prozent der Aufnahmen gab es einen Negativnachweis auf SARS-CoV-2. Die Überwiegende Mehrheit (über 70 Prozent) der Pflegefamilien hat Angst vor Ansteckung bei Umgangskontakten. Mehr als die Hälfte der Befragten hat sich keine Gedanken gemacht, wie das Pflegeverhältnis bei Ausfall der Pflegeperson gesichert ist. Lediglich 2 Prozent haben hierzu Absprachen mit ihrem zuständigen Pflegekinderdienst.

35 Prozent der Familien erhalten Assistenzleistungen wie Betreuung, Pflege, Haushalt Nachhilfe statt, 15 Prozent davon nach dem Arbeitgebermodell. Im Arbeitgebermodell gab es keinerlei Unterstützungen für den Infektionsschutz und die entstehenden Mehrkosten. Diese wurden durch die Familien selbst getragen.

In 96 Prozent aller Fälle erhielten die Familien keine Information zu Teststrategie und Beschaffung von Schnelltests. Sie erhielten keinerlei Coronabeihilfe, Kostenerstattung oder Hilfe zur Beschaffung von Hygieneartikeln und Masken. 17 Prozent der Familien beklagten bedrohliche Versorgungsengpässe mit Medikamenten, Hygienemitteln und Hilfsmitteln (wie z.B. Antiepilepsiemedikament, Desinfektionsmittel oder Magensonden).

Lediglich 25 Prozent aller befragten Pflegepersonen sind für die Priorisierung der Coronaimpfung erfasst worden. Fast alle Familien bemühten sich um die Erfassung eigenständig. Jede von ihnen musste für die Erfassung argumentieren. Nur eine Familie erhielt eine Bescheinigung des zuständigen Trägers für eine Impfung.

In eigenen Pflegefamilien kam es zu Leistungskürzungen durch die Verrechnung der Kindergeld-Sonderzahlung oder durch massiven Ausfall von Betreuungszeiten. Nur selten konnte z.B. der Schulbegleiter zur Entlastung in der Häuslichkeit umgewidmet werden.

Bereitschaftspflege speziell:

133 der befragten Familien sind Bereitschaftspflegefamilien, 89 von ihnen haben in der Zeit Kinder in Obhut genommen. Bis auf eine Familie gab es keinerlei Verfügungen über Schnelltests oder vorgegebene Hygienekonzepte. Auch die häufigen Elternkontakte in der Bereitschaftspflege fanden fast ausschließlich ohne Testung und unzureichende Hygienemaßnahmen statt. In allen Fällen fand keine Beratung oder Konzeption seitens des Trägers statt. Teilweise wurden Kontakte ohne Maske in der Häuslichkeit abverlangt. Während der Pandemie wurde etwa die Hälfte der Pflegeverhältnisse wieder beendet. Diese wurden auf Grund von Corona häufig durch die Familien eigenständig durchgeführt, und es fand kaum ausreichende Anbahnung von Kontakten für die Kinder statt (etwa 75 Prozent).

Fazit:

Pflegefamilien stehen in der Pandemie besonderen Herausforderungen gegenüber. Der größte Teil der Kinder ist verhaltensoriginell und / oder hat eine anerkannte Behinderung. Die Familien werden zu wenig wahrgenommen. Dass die Kinder durch das installierte System „Pflegefamilie“ eine ausreichende Betreuung und Versorgung erfahren, ist ein Trugschluss. Sicherlich können sich Pflegefamilien bis zu einem gewissen Punkt selbst organisieren, doch brauchen sie auch die Mittel dafür. Bis auf das Kindergeld konnten die Pflegefamilien keine Eltern- oder Betreuungsgelder abrufen, die vom Staat zur Verfügung gestellt wurden. Beim Kindergeld kam es zum Teil zu Verrechnungen mit der Grundleistung für das entsprechende Kind. Nur 4 Prozent der Familien erhielten Schnelltests und wurden darin begleitet. Ebenso erhielten sie keinerlei Coronabeihilfen.

Im Arbeitgebermodell müssen die Familien sich mit den geltenden Coronaregeln auskennen und dem Infektionsschutzgesetz nachkommen. Antragsrecht als Arbeitgeber (Testerstattung / Beschaffung, Impfpriorität) haben sie jedoch nicht, da sie als Privathaushalt gelten. Bei Hilfen durch Dienstleister kam es zu Ausfällen.

Insgesamt sind die Pflegefamilien in der Pandemie alleingelassen worden. Obwohl jede von ihnen Dienstleister mit einem Auftrag der öffentlichen Hand ist, werden sie weder ausreichend gesehen noch nennenswert aktiv unterstützt.

Weit über 90.000 Kinder in Deutschland leben in der Obhut von Pflegefamilien, die mit ihren Pflegefamilien nicht ausreichend berücksichtig wurden.

Es ist jedoch nicht zu spät für Hilfe, Beratung, Beistand und Wertschätzung.

Auswertung / Text: Kerstin Held

Hier finden Sie die Grafiken und Daten zu den einzelnen Fragen in einem PDF.

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