Stellungnahme zum Dialogprozess SGB VIII: Mitreden – Mitgestalten
Mit dem derzeitigen Beteiligungs- und Dialogprozess „Mitreden – Mitgestalten“ soll die Kinder- und Jugendhilfe modernisiert werden. Zur nächsten Arbeitssitzung am Donnerstag, 4. April 2019, ist unsere Vorsitzende Kerstin Held ins Bundesfamilienministerium eingeladen, um vorzutragen, was sich für Pflegekinder mit Behinderung ändern muss.
Dazu hat der Bundesverband behinderter Pflegekinder e.V. diese Stellungnahme in den Abstimmungsprozess eingebracht:
Stellungnahme zum Dialogprozess „SGB VIII: Mitreden – Mitgestalten“ / 3. Sitzung am 04.04.2019
Stellungnahme eingereicht durch: Kerstin Held (Vorsitzende des Bundesverbandes behinderter Pflegekinder e.V.)
Wenn ein Kind mit Behinderung nicht in seiner Herkunftsfamilie aufwachsen kann, ist es derzeit dem Zufall überlassen, ob es den Weg in eine Pflegefamilie finden kann. Dabei ist unumstritten: Pflegefamilien sind für Kinder mit und ohne Behinderung eine der wichtigsten Hilfeformen, wenn das System ihrer Herkunftsfamilie für sie nicht länger tragfähig ist.
Aus der Broschüre des Deutschen Engagementpreises 2018:
„Als der Bundesverband behinderter Pflegekinder e.V. 1983 gegründet wurde, kannte Deutschland den Begriff ‚Inklusion‘ noch lange nicht. Das ist wohl das beste Beispiel für die Wirkung des Verbandes.
Gemäß der UN-Kinderrechtskonvention hat jedes Kind das Recht auf eine Familie. Dies gilt auch für Kinder mit Behinderungen und chronischen Krankheiten die nicht bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen können. Der Bundesverband behinderter Pflegekinder e. V. ist seit 1983 zur Stelle, wenn es um die Vermittlung von Kindern mit körperlichen, geistigen, seelischen und mehrfachen Behinderungen oder mit einem besonderen Betreuungsbedarf in geeignete Pflegefamilien geht. Dafür stehen zwei hauptamtliche Mitarbeiter in der Geschäftsstelle des Vereins sowie insgesamt 24 Ehrenamtliche den Anfragenden zur Seite. Ziel ist dieser Vermittlungshilfe der Kinder in ein liebevolles und ihren Bedürfnissen gerechtes Familienumfeld. Neben der Vermittlungsarbeit ist die Beratung der Pflegefamilien durch ehrenamtliche Beraterinnen und Berater fester Teil des Vereinskonzepts. Die Beteiligten geben Hilfestellungen in Fragen zu Jugend- und Sozialhilfe, zu verschiedenen Formen der Behinderung sowie zu Vormundschaft und Pflegschaft. Der Bundesverband behinderter Pflegekinder e.V. ist in seiner Art und Arbeitsweise bundesweit einzigartig und leistet seit mehr als drei Jahrzehnten Pionierarbeit.“
Wenn Eltern eines Kindes mit hohem Pflegebedarf auf Grund einer Behinderung einen Antrag auf Hilfe zu Erziehung gemäß SGB VIII stellen, werden sie in der Regel mit der Begründung der „Nichtzuständigkeit“ abgelehnt.
Es gibt für Kinder mit geistiger, und / oder körperlicher Behinderung und deren Familien keinen gesicherten und fachlichen Zugang in die Kinder- und Jugendhilfe.
Bei einem Kind mit einer geistigen oder körperlichen Behinderung in einer Familienpflege, ist der Eingliederungshilfeträger nach SGB XII bzw. SGB IX Teil 2 (ab 2020) vorrangig zuständig. Voraussetzung ist die Erteilung einer Pflegeerlaubnis nach § 44 SGB VIII. Die seit 2009 in § 54 Abs. 3 SGB XII zunächst befristet vorgesehene Familienpflege wurde zuletzt durch den Beschluss des Bundestages vom 18.12.2018 entfristet (Zustimmung des Bundesrates am 15.02.2019) und geht 2020 in die Regelungen des § 80 SGB IX über.
Nach unserer Auffassung gehört die Fallsteuerung in die Kinder- und Jugendhilfe, denn es geht um Kinder und Jugendliche. Die Eingliederungshilfe verfügt über keinen Pflegekinderdienst. Eine Begleitung und Beratung der Pflegefamilie, des Kindes und der Herkunftsfamilie ist eindeutig in die Hände der pädagogischen Zuständigkeit des SGB VIII zu legen und bedeutet weit mehr als ein Verwaltungsakt der Eingliederungshilfe. Somit sehen wir die Beratungsverantwortung in der Kinder- und Jugendhilfe. Die Sachkenntnisse der Eingliederungshilfe und Pflege sind im Gesamtkontext unverzichtbar und müssen fachbereichsübergreifend in der Kinder- und Jugendhilfe zugänglich sein. Dies könnte z.B. mit dem Einsatz von Fallmanagern (z.B. Sozialarbeiter in der Eingliederungshilfe) ermöglicht werden. Die Leistungsverantwortung liegt für uns eindeutig bei der Eingliederungshilfe und kann nur langfristig durch eine gesamtinklusive Lösung dem SGB VIII zugeführt werden.
Eine solche Lösung hat sich bereits in mehreren Städteregionen als praktikabel erwiesen. So setzt z.B. die Stadt Osnabrück Fallmanager in der Eingliederungshilfe ein. Sie stellen eine Brücke zur fallführenden Jugendhilfe dar. Die Hilfeplanverantwortung und Betreuung der Pflegefamilie und der Herkunftsfamilie liegt in den Händen der Jugendhilfe. Ein weiteres Best-Practice-Beispiel ist der Kooperationsvertrag zwischen der Jugend- und der Sozialhilfe der Stadt Oldenburg: Verantwortlich bleibt die Eingliederungshilfe mit Fallführung im Pflegekinderdienst der Stadt Oldenburg. In Oldenburg ist die Hilfe für Kinder mit besonderen Bedarfen grundsätzlich bis zum 21. Lebensjahr gesichert und in der Fallführung im Jugendamt per Kooperationsvertrag verortet.
Weiterhin ist der Einsatz von Fachdiensten eine bereits etablierte Arbeitsweise.
Das Instrument Hilfeplanung / Gesamtplankonferenz darf sich nicht an der Art der Hilfe festmachen, sondern an der Tatsache, dass es eine Hilfe gibt – egal, wie diese aussehen mag. Aktuell hängt es bei Pflegekindern mit Behinderung vom fachlichen Verständnis und der Befähigung des Eingliederungshilfeträgers ab, ob überhaupt und in welcher Weise eine Hilfeplanung / Gesamtplankonferenz durchgeführt wird und welche Leistungen zur Betreuung und Unterstützung der Pflegefamilie ermöglicht werden. Das Gesetz sieht für Kinder mit geistiger und/oder körperlicher Behinderung eine qualifizierte Gesamtplanung vor. Das muss in der Praxis umgesetzt werden.
Die Vergabe einer Pflegeerlaubnis nach § 44 SGB VIII ist unverzichtbar. Jede Pflegeerlaubnis bedarf einer individuellen Überprüfung der Pflegefamilie in Bezug auf das entsprechende Kind. Genau hier kommt es zu Konflikten. Häufig scheitert die Unterbringung in einer Bewerberfamilie, weil z.B. das örtliche Jugendamt die Zuständigkeit verweigert, weil das entsprechende Wissen über die Behinderung des Kindes fehlt oder weil das angestrebte Familienmodell vom Sachbearbeiter vorab pauschal als Überlastung der Pflegeeltern bewertet wird.
Um die Vergabe der Pflegeerlaubnis für Kinder mit Behinderung zu objektivieren, bedarf es dringend einer Verfahrensoptimierung. Eine rein systemische und pädagogische Sichtweise greift hier zu kurz. Es müssen ebenso medizinische, pflegerische und spezielle logistische Aspekte mit einbezogen und bewertet werden. So kann eine Familie etwa hervorragend zur Aufnahme eines Kindes mit hohem pflegerischem oder gar intensivmedizinischem Bedarf geeignet sein, jedoch nicht für ein Kind mit hohen pädagogischen Anforderungen. Hier erleben wir jedoch kaum bis keine Differenzierung. Häufig fließen nicht die entsprechenden Bewertungskriterien ein und das Fachwissen hierzu fehlt. Es besteht dringender Handlungsbedarf, denn nur weil es sich der Vorstellungskraft eines Entscheiders entzieht, dass eine Pflegefamilien einem schwerbehinderten Kind ein Zuhause geben kann und möchte, bleiben viele Kinder in den Kliniken allein zurück!
Spezialisierte Fachdienste können hier das System entlasten und die Verfahren zur Vergabe der Pflegeerlaubnis optimieren.
Weiterhin stellt sich die Frage nach der Pflegeerlaubnis für volljährige Menschen mit Behinderung. Der neue § 80 BTHG sieht nach jetzigem Rechtsverständnis die Notwendigkeit einer Pflegeerlaubnis auch für erwachsene Menschen mit Behinderung vor, wenn sie in einer Pflegefamilie leben. Für uns ist dies nicht nachvollziehbar und bedarf einer Erläuterung.
Für jedes Kind sollte in seinem speziellen Fall das Recht und damit die Pflicht auf individuelle Überprüfung bestehen. Die Pflegefamilie spielt hierbei eine gewichtige Rolle und ist eine wertvolle „Institution“ im Bereich der Fremdunterbringung von Kindern und Jugendlichen. Eine Pflegefamilie leistet einen außergewöhnlichen Beitrag für unsere Gesellschaft und ist in aller Selbstverständlichkeit ein inklusives Lebensmodell.
Daher kann und darf diese Option Pflegefamilien für Kinder mit Behinderung nicht zweitrangig oder zufällig gewählt sein. In einzelnen Fällen mag eine Pflegefamilie nicht das richtige Modell der individuellen Förderung und Begleitung eines speziellen Kindes sein und damit keinen elementareren Lebensmittelpunkt darstellen. Hier können wir auf erfahrene und stabile Strukturen der vollstationären Pflege und Unterbringung zählen. Wir wünschen uns jedoch auch hier eine Verantwortlichkeit in der Kinder- und Jugendhilfe mit regelmäßiger Hilfeplanung unter Einbeziehung der Herkunftsfamilie.
In den meisten Fällen stellt eine Pflegefamilie mit ihren festen Bezugspersonen und ihrem kontinuierlichem Beziehungs- und Bindungsangebot auch für Kinder mit geistigen, körperlichen und mehrfachen Behinderungen diejenige Unterbringungsform dar, die am aussichtsreichsten die Bedürfnisse eines solchen Kindes erfüllt.
Bezugnehmend auf die Kinder mit Behinderung kommt es nicht selten zur freiwilligen Abgabe des Kindes in die Obhut einer Einrichtung oder Pflegefamilie, wobei letzteres den Eltern wenig zugänglich oder bekannt ist. Hier steht nicht die Erziehungsfähigkeit der Eltern in Frage oder kann durch systemische Familienberatung interveniert werden. Die Rückführung eines Kindes mit Behinderung, dass auf Initiative der Eltern in die Fremdunterbringung gekommen ist, ist erfahrungsgemäß nicht das primäre Bestreben der Eltern. Deren angestrebtes Ziel ist vielmehr eine liebvolle und fachgerechte Unterbringung ihres Kindes, da sie sich selbst der Bewältigung der behinderungsbedingten Anforderungen im Alltag nicht gewachsen fühlen. Dies stellt einen wenig wandelbaren Tatbestand dar.
Die Zusammenarbeit mit der Herkunftsfamilie ist elementar und fordert ein besonderes Verständnis. Aus der Praxis können wir berichten, dass viele Herkunftseltern keinen Kontakt zu ihrem Kind haben, weil die geeigneten Settings fehlen. Die Einbindung der Herkunftsfamilie und die Beratung sind derzeit absolut insuffizient bis gar nicht vorhanden. Kontakte mit ihrem Kind werden kaum begleitet und finden selten die richtige Umgebung. Viele unserer Pflegefamilien managen die Besuchskontakte eigenständig. Diese finden nicht selten in der Häuslichkeit der Pflegefamilien statt, da das Kind dort das verlässliche Versorgungsumfeld hat. Häufig entstehen sehr emotionale Situationen, die einer professionellen Begleitung aller Beteiligten bedürfen.
Wenn die Ressourcen der Jugendämter erschöpft sind, das Fachwissen fehlt oder die Eingliederungshilfe hier die Gesamtverantwortung trägt, werden seit längerem in bestimmten Regionen der Bundesrepublik freie Träger der Jugendhilfe eingesetzt, die eben diese Aufgaben übernehmen. Hier gibt es gute Fachdienste der sogenannten „Sonderpflege“, die ein „Outsourcing“ ermöglichen. Eine fachliche Begleitung der Pflegefamilie ist bereits zum jetzigen Zeitpunkt umsetzbar. Es gibt zahlreiche „best practice“ Beispiele für funktionierende Systeme. Leider gibt es hier keinerlei Standards, die eine Fachlichkeit dieser Dienste sichern. Derzeit kann theoretisch jeder freie Träger die sogenannte Sonderpflege anbieten.
Familienpflege eines Kindes mit Behinderung ist Familienpflege unter erschwerten Bedingungen. Es sollte außer Frage stehen, dass hier die Standards der Kinder- und Jugendhilfe unter Berücksichtigung der besonderen Anforderungen nicht unterschritten werden. Im Gegenteil muss bei Pflegekindern mit Behinderung schon
grundsätzlich von der Notwendigkeit höherer Leistungen ausgegangen werden.
Die Leistungen für Pflegefamilien mit behinderten Kindern werden derzeit bundesweit verhandelt wie auf einem Basar. Die Bundesländer unterscheiden sich massiv voneinander und die Kommunen verhandeln zusätzlich im individuellen Fall.
Leistungssicherheit und am Kind orientierte Hilfen sind jedoch Grundlage für ein stabiles Gerüst der langfristigen Hilfe. Es darf nicht zu Leistungsminderungen kommen, weil z.B. eine Amtsleitung wechselt, die Zuständigkeit in der Fallführung abgegeben wird oder die Familie in einen anderen Landkreis zieht. Die Praxis zeigt hier leider das Gegenteil. Familien ziehen mit ihren Pflegekindern aus der Heimat weg, weil z.B. die „Sonderpflege“ nicht existiert. Wir brauchen dringend bundesweite Regelungen um Leistungsstabilität herzustellen.
Auch beim Übergang in die Volljährigkeit kann das Pflegeverhältnis fortgesetzt werden. Der Eingliederungshilfeträger verneint bislang jedoch in der Regel einen erzieherischen Bedarf, sodass Leistungen, die auf diesen Zweck ausgerichtet sind, für junge Volljährige mit Behinderung in Pflegefamilien nicht zur Verfügung stehen. Da durch die bisher verweigerte und nicht existenzielle Zuständigkeit der Jugendhilfe und damit der Hilfe zur Erziehung davon ausgegangen werden kann, dass Erziehung nicht als Tatbestand zu Grunde gelegt wird, ist von erneuter „Begriffsstutzigkeit“ auszugehen. Durch Umbenennung des Begriffs „Erziehungsbeitrag“ z.B. in „Betreuungsbeitrag“ ist die Leistung wieder glaubhaft und in der Eingliederungshilfe gut darstellbar.
Generell muss und sollte an den Begrifflichkeiten dringend gearbeitet werden und die Sprachen der Eingliederungshilfe und die der Jugendhilfe aufeinander abgestimmt werden. So kann aus dem Jugendhilfebegriff der „Verselbständigung“, der aus unserer Sicht wenig inklusiv orientiert ist, auch der Begriff der „Selbstbestimmtheit“ entspringen. Und die „Hilfe zur Erziehung“ kann auch eine „Hilfe zur Erziehung und Betreuung“ werden und somit beide Bedarfe beinhalten. „Begriffsstutzigkeit“ darf nicht dazu führen, dass Leistungen verringert oder gar nicht gewährt werden. Allein der tatsächliche Bedarf des Hilfesuchenden muss für die Notwendigkeit und Höhe der Leistungen ausschlaggebend sein.
Solange die Zuständigkeit für Pflegekinder mit Behinderung beim Eingliederungshilfeträger nach SGB XII/SGB IX Teil 2 liegt, sollte die dargestellte Problematik durch ergänzende gesetzliche Regelungen beseitigt werden. Diese müssen sicherstellen, dass
- die pädagogische Fallführung für Familienpflege mit einem Kind mit Behinderung obligatorisch in der Hand des Jugendhilfeträgers liegt,
- die Pflegeerlaubnis um die entsprechenden Expertisen objektiviert wird,
- bei einer Unterbringung außerhalb der Herkunftsfamilie immer die Möglichkeit der Familienpflege vorrangig geprüft wird (Art. 23 Abs. 5 UN-BRK),
- gesicherte, fachlich qualifizierte und ausreichende Betreuungs- und Unterstützungsleistungen für die Familienpflege eines Kindes mit Behinderung zur Verfügung stehen,
- und im Übergang zur Volljährigkeit eine Übergangsplanung stattfindet, die die erforderliche Betreuungsqualität sichert und die Fortsetzung geeigneter Betreuungsverhältnisse in den Pflegefamilien
grundsätzlich ermöglicht, unter Sicherstellung der notwendigen Leistungen.
Der bestehende § 80 SGB IX ist dafür in seiner bisherigen Form völlig unzureichend. Es bedarf dringend ergänzender gesetzlicher Regelungen, um die notwendigen Leistungen für Pflegekinder mit Behinderung bundesweit verbindlich festzuschreiben.
Das inklusive SGB VIII ist unser höchstes Ziel. Bis dahin bedarf es praxisnaher Zwischenlösungen, die eine inklusive Kinder- und Jugendhilfe auf Dauer ermöglichen.
Der Bundesverband behinderter Pflegekinder e.V. sichert in diesem Prozess seine Unterstützung und seine jahrzehntelange Erfahrung uneingeschränkt zu!
Kerstin Held (Vorsitzende)
Hier gibt’s die BbP-Stellungnahme als PDF [262 KB]
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