Von Kerstin Held
„Sorgen Sie für Ersatz!“
„Sie sind keine Einrichtung, ohne Status können wir nichts für Sie tun.“
„Sie bekommen doch Bekleidungsgeld, zahlen Sie erstmal die Masken davon.“
„Sie haben keine Anerkennung nach § XY, es tut uns leid.“
„Versuchen Sie es doch mal bei der Kassenärztlichen Vereinigung.“
„Wenden Sie sich an die Patientenhotline, dort hilft man Ihnen weiter.“
„Sie sind Arbeitgeber, da sind wir nicht zuständig.“
Diese und noch viele Aussagen mehr erhalten derzeit unsere Pflegefamilien mit Kindern mit Behinderung. Doch keine dieser Aussagen hilft weiter. Keine der Aussagen ist zielführend.
Der Bundesverband behinderter Pflegekinder e.V. setzt sich seit vielen Jahren für die inklusive Kinder- und Jugendhilfe ein. Pflegekinder mit Behinderung und deren Familien haben bis heute kaum Rechtssicherheit. Die Rahmenbedingungen, das Recht auf familiäre Unterbringung, die Beratung, die finanziellen Hilfen und Vieles mehr sind unverändert unklar und nur in Einzelfällen verhandelt. Jedes einzelne Pflegefamiliensystem mit einem Kind mit Behinderung ist äußerst fragil.
Der aktuelle Reformprozess zur inklusiven Kinder- und Jugendhilfe wurde durch unseren Verband in mehreren Kommentierungen und durch die aktive Teilnahme an der Bundesarbeitsgruppe begleitet und vorangebracht. Kinder mit Behinderung sollen in den Fokus des SGB VIII. Seit Beginn der Pandemie vermissen wir genau diesen Fokus.
Es wirkt fast surreal, dass Kinder mit Behinderung mit keinem Satz in Maßnahmen, Pressekonferenzen oder Statements des BMFSFJ genannt werden – und im Hintergrund läuft der Reformprozess zum Spatenstich der inklusiven Kinder- und Jugendhilfe. Wer ist in der Pandemie für die Kinder mit Behinderung zuständig? Die Eingliederungshilfe und das BMAS? Oder doch Herr Spahn und damit das BMG? Oder sind es nicht einfach Kinder und deren Familien, liebe Frau Giffey? Haben unsere Pflegefamilien, die einen öffentlichen Erziehungs- und Versorgungsauftrag erhalten haben, keine Systemrelevanz?
Sie haben Schutz und Hilfen mehr als verdient!
Die gesetzlichen Lücken stellen uns im Alltag immer wieder vor große Herausforderungen, und diese Lücken werden in der Corona-Pandemie zu tiefen Gräben.
Pflegende Angehörige – und in unserem Fall speziell die Pflegeeltern – entlasten derzeit unsere Solidargemeinschaft mehr denn je. Sie sind zugleich absolut systemrelevant und nicht im Fokus der Schutzmaßnahmen, finanziellen Unterstützungen, Impfpriorisierung, Teststrategien und Entlastungsmodellen. Allein in den Familien unseres Verbandes leben über 1.000 minderjährige Pflegekinder mit unterschiedlichsten Behinderungen.
Viele Pflegefamilien unterscheiden sich z.B. in Punkto Arbeitgebermodell nicht von anderen Familien, die ihre Kinder im Assistenzbereich und/oder der häuslichen Krankenpflege über das Persönliche Budget versorgen. So sind die Pflegeeltern und Vormünder Arbeitgeber und haben sich an das Infektionsschutzgesetz zu halten.
Ein konkretes Beispiel: Ich bin als Pflegemutter und Vormündin ebenfalls Arbeitgeberin von 14 Pflegekräften in Voll- und Teilzeit, da zwei meiner Kinder 24/7 Intensivpflege benötigen. Ich wählte das Arbeitgebermodell, um verlässlicher planen zu können. Leider ist das Budget durch die Pandemie nicht angepasst worden. Schutzmaßnahmen und Testungen für die Mitarbeiter haben bereits über 10.000 Euro Kosten verursacht, die niemand erstattet. Die Arbeitgeberpflichten müssen erfüllt werden, aber bleiben ohne Rechte und Hilfen. Pflegefamilien sind keine Einrichtung, als Arbeitgeber kein Pflegedienst und keine öffentliche Stelle – haben also keinen Status in der Pandemie. Die 14 Mitarbeiter unserer Familie sind aus der 1. Position der Impfpriorisierung gefallen, weil sie nicht bei einem Pflegedienst angestellt sind, sondern in einer Familie. Hierbei ist irrelevant, dass sie dieselbe Arbeit leisten.
Ähnlich verläuft es bei den Quarantänekonzepten. Die Mitarbeiter der pflegebedürftigen Menschen werden ohne Betrachtung der individuellen Situation in Quarantäne gesetzt. Im Gegensatz zu besonderen Wohnformen sind die Fachkräfte im ambulanten Bereich offensichtlich weniger systemrelevant. In unserem speziellen Fall würde die Infektion eines Kindes mit Covid-19 eine Quarantäneanordnung sämtlicher Diensthabender der letzten 14 Tage nach sich ziehen. Auf Rückfragen beim zuständigen Gesundheitsamt, wieso hier nicht das Prinzip der Testung und Arbeitsquarantäne greift, kam als Antwort: „Sorgen Sie für Ersatz!“ Eine individuelle Betrachtung oder gar ein individuelles Quarantänekonzept findet keine Beachtung. Wie soll ein pflegebedürftiger Mensch sich selbst helfen, wenn niemand mehr da ist? Bei Pflegefamilien mit Kindern mit Behinderung bewegen wir uns sehr schnell in die Richtung des Vorwurfs einer Kindeswohlgefährdung.
Gesamtpläne und Hilfepläne finden kaum oder gar nicht statt und Anträge unserer Familien werden zum Teil über Monate nicht bearbeitet. Der große Teil der Pflegefamilien im BbP ist seit Pandemiebeginn durch das zuständige Jugend- oder Sozialamt nicht aktiv kontaktiert worden. Es erfolgte kaum Aktion und sehr verlangsamte Reaktion. Manche Familien berichten sogar von komplett ausgebliebenen Antworten auf Anfragen oder Anträge.
Die Vermittlungshilfe des Bundesverbandes behinderter Pflegekinder ist unverändert durch die Jugendämter gefragt. Zum Teil müssen Inobhutnahmen extra schnell gehen. In Coronazeiten scheint dies präsenter denn je. Die Vermittlung von Kindern mit Behinderung ist nicht selten eine bundesweite Aufgabe für den Verband, und die überprüften Bewerberfamilien sind Gold wert. Derzeit sind viele Familien bereit, einem Kind mit Behinderung ein Zuhause zu schenken, werden aber auf Grund von Corona nicht überprüft. Die Jugend- und Sozialämter haben hohen Bedarf an Pflegefamilien und es braucht dringend Ausnahmen und Konzepte, die eine Überprüfung der Familien möglich machen. Wir erwarten durch die außergewöhnliche Belastung der Familien eine steigende Zahl von Inobhutnahmen. Auch die Zahl der Kinder mit einer Drogen-/Alkoholschädigung und daraus resultierenden lebenslänglichen Behinderungen steigt.
Der Bundesverband behinderter Pflegekinder e.V. möchte in Kürze digitale Gesprächskreise für betroffene Familien anbieten, um in den Austausch zu gehen. Zusätzlich dokumentieren wir die einzelnen Themen und ordnen sie der Häufigkeit zu. So entsteht eine bessere Orientierung in der Beratung. Außerdem können wir dadurch die Brisanz der einzelnen Bereiche besser erfassen und mit unseren Dachverbänden thematisieren.
Pflegefamilien haben ganz normale Alltagssorgen. Homeoffice, Homeschooling, Kinderbetreuung und Coronaregeln sind ebenso allgegenwärtig wie in allen anderen Familien auch. Zusätzlich haben Pflegefamilien mit Kindern mit Behinderung die ganz normalen Alltagssorgen, die pflegende Angehörige nun mal haben. Außerdem haben Pflegefamilien Rechenschaft abzulegen, einen öffentlichen Erziehungsauftrag zu erledigen, ein besonderes Augenmerk auf den Kinderschutz, Umgangskontakte zu realisieren und für ein stabiles Umfeld zu sorgen.
Alle Pflegefamilien mit chronisch kranken und/oder behinderten Kindern haben Ängste. Auch Verlustängste machen sich ungewöhnlich breit. Diese Pandemie ist nun mal lebensgefährlich. Kinder sind bisher von der Impfung ausgeschlossen, und falls Geimpfte tatsächlich weiterhin infektiös sein könnten, werden viele Risiken für die Familien noch bedrohlicher, als sie es bereits sind. Die Familien sind schon vor Corona Exklusionsprozessen ausgesetzt gewesen, und nun machen sich diese auf außergewöhnliche Weise bemerkbar.
Wir sind komplett aus dem Blick geraten! Anders kann man es nicht nennen.