Zur 3. Sitzung der Arbeitsgruppe „Inklusives SGB VIII“ zum Thema „Art und Umfang der Leistungen (2. Teil)“ am 20.04.2023 im Bundesfamilienministerium in Berlin veröffentlicht der BbP folgende Stellungnahme:
Stellungnahme: Art und Umfang der Leistungen (2, Teil), Zugang zu Leistungen durch Hilfe-, Gesamtplan und Teilhabeplanung
Stellungnahme als Sachverständige zur 3. Bundes-AG-Sitzung „Inklusives SGB VIII“
Im komplexen Themenfeld eines inklusiv gestalteten SGB VIII nimmt der Bundesverband behinderter Pflegekinder e.V. (BbP) einen umfassenden Blick der Selbsthilfe ein, der durch unseren Alltag mit Kindern mit Behinderung geprägt ist. Pflegefamilien von Kindern mit und ohne Behinderung leben mit den Kindern im familiären Verbund und erbringen zugleich eine sozialstaatliche Dienstleistung als überprüfte Leistungserbringer der öffentlichen Hand. Aus dieser Position heraus vereint der BbP seit 40 Jahren die Leistungen der Hilfen zur Erziehung und anderer Rehabilitationsträger mit der Lebenswirklichkeit der Kinder und jungen Menschen mit Behinderung in Pflegefamilien.
Die Pflege- und Adoptivkinder mit Behinderungen und/oder chronischen Erkrankungen, deren Interessen der BbP vertritt, haben einen erhöhten Rehabilitations-, Teilhabe- und Pflegebedarf. Daraus ergeben sich immer besondere Herausforderungen in der Begleitung, Erziehung und Versorgung. Die daraus resultierenden erhöhten Anforderungen an die Familien werden dadurch verschärft, dass diese oftmals von mehrdimensionalen gesellschaftlichen und systemischen Exklusionsprozessen betroffen sind. Das Familiensystem selbst leistet hierbei den inklusivsten Beitrag in unserer Gesellschaft.
Im aktuellen Beteiligungsprozess „Gemeinsam zum Ziel“ steht die inklusive Ausgestaltung der Kinder- und Jugendhilfe im Vordergrund. Die Bedarfe von Kindern und jungen Menschen mit Behinderung und/oder chronischen Erkrankungen sind hierbei besonders in den Blick zu nehmen, da diese die Wirkung der zentralen Reformvorhaben direkt spüren werden.
Grundsätzlich sei gesagt, dass Inklusion im Auge des Betrachters liegt und Barrierefreiheit nicht normiert werden sollte. Jeder Mensch fühlt sich zu einem bestimmten Zeitpunkt, an einem bestimmten Ort und zu bestimmten Bedingungen anders inkludiert. Was für einen selbst gilt, gilt für niemanden sonst. Gleichmacherei wird keinem Individuum gerecht.
Es ist hinlänglich bekannt, dass die Behindertenhilfe einen anderen Blick auf Teilhabe und Selbstbestimmung hat als die Jugendhilfe. Die Behindertenhilfe hat viele Jahre für das jetzig geltende Bundesteilhabegesetzt gekämpft. Begriffe wie „Hilfe“ wurden gegen „Leistung“ getauscht. „Heime“ gibt es nicht mehr, und „Heimbeiräte“ nennen sich längst nicht mehr so. Die Selbstvertretung ist in der Behindertenhilfe keine neue Erfindung. In Beteiligungsprozessen wie diesem werden Formulierungen gewählt und Forderungen gestellt, die die Behindertenhilfe teilweise in alte Kämpfe zurückversetzt. Es bestehen Ängste vor wiederholten Rechtsstreitigkeiten, Leistungsverlusten und sogar Diskriminierungen. Die Jugendhilfe auf der anderen Seite bringt ebenfalls Ihre begründete Begrifflichkeit ins Feld und möchte diese im Sinne der Fachlichkeit nicht aufgeben. Der BbP als sachverständige Organisation befindet sich seit Jahrzehnten „zwischen den Welten“ der Jugend- und der Eingliederungshilfe. In dieser Funktion möchten wir dafür werben, keinen engstirnigen Focus auf die eigene Systemlogik zu legen. Nur durch eine grundlegende Offenheit für erweiterte Begriffsverständnisse lässt sich das Reformvorhaben umsetzen.
Die Reform spielt sich nicht allein auf dem Feld der juristischen Normierungen ab. Ein inklusiv ausgerichtetes SGB VIII braucht mehr als eine Zusammenführung zweier Sozialleistungsgesetze ohne Ausweitung des Kreises der Leistungsberechtigten sowie des Leistungsumfangs. Inklusion zum „Nulltarif“ ist nicht möglich!
Wir halten es von zentraler Bedeutung, Transparenz über die Größenordnung der Reform herzustellen. Bereits 2016 wurde deutlich, dass es eine Erfassung in der Kinder- und Jugendhilfestatistik der Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen (in Fremdunterbringung) braucht. Wir haben 11/2016 die Erweiterung der entsprechenden Erhebungsmerkmale der Kinder- und Jugendhilfestatistik gefordert, um im Hinblick auf eine inklusive Ausgestaltung des SGB VIII zu wissen, über welche Größenordnung wir überhaupt sprechen. Dies ist bis heute nicht geschehen, obwohl diese Zahl von hohem Interesse ist und die Frage danach immer wieder im Raum steht.
Da bis heute nicht geklärt ist, von welcher Größenordnung man ausgehen kann, sind Befürchtungen einer Systemüberforderung durchaus begründet. Es macht die inklusive Ausrichtung des SGB VIII zu einer unkalkulierbaren Größe, die gleichzeitig nichts kosten darf und keine Erweiterung des Personenkreises beinhalten soll.
Weiterhin möchten wir darauf hinweisen, dass die Benennung von jungen Menschen mit Behinderung als eine Peergroup zu selten Erwähnung in dem bisherigen Beteiligungsprozess findet. Sicherlich ist die separate Benennung der seelischen Behinderung aus der bisherigen Systemlogik der Kinder- und Jugendhilfe wichtig, doch bevor es um die Zusammenführung von Leistungen geht, muss es aus unserer Sicht auch um die begriffliche Zusammenführung von „jungen Menschen mit Behinderung“ gehen, weil sie die Adressaten sind.
Im jetzigen Arbeitspapier zur 3. Sitzung wird einmal mehr deutlich, dass zu wenig Blick auf die Wechselwirkung mit anderen Sozialleistungsträgern genommen wird. Der isolierte Blick auf die Eingliederungshilfe mit „Verschmelzungsoption“ mit dem SGB VIII ist aus der Sicht der Selbsthilfe nicht zielführend. Im gesamten Arbeitspapier bleibt der wesentliche Leistungsbereich der gesundheitsbezogenen Rehabilitations- und Teilhabebedarfe erneut außen vor. Unser Bestreben liegt nicht in der Verschmelzung aller Sozialleistungen im SGB VIII. Wir fordern stattdessen eine gesamte pädagogische Fallzuständigkeit mit differenziertem Leistungstatbestand.
Der Bundesverband behinderter Pflegekinder e.V. sieht in dem vorliegenden Entwurf des Arbeitspapiers mit seinen Optionen eine Bekräftigung seines Standpunktes, keinen einheitlichen Leistungstatbestand herbeizuführen. Der von uns favorisierte differenzierte Leistungstatbestand (in unserer Stellungnahme zur 2. Sitzung beschrieben) stellt zum einen die nötige Unterscheidung der Leistungen von Rechtsansprüchen und daraus resultierenden Rechtsfolgen dar. Zum anderen nimmt er durch die geforderte Fallführung die Hilfen zur Erziehung in die Pflicht, konkret an einer Erweiterung der inklusiven Ausrichtung zu arbeiten.
Mit der jetzigen Formulierung im Arbeitspapier können wir aus unserer Sicht zuversichtlicher in den Mittelweg einsteigen: getrennte Leistungskataloge für Hilfen zur Erziehung und Leistungen der Eingliederungshilfe im SGB VIII mit einem ausdrücklichen „Auffanghinweis“ auf das SGB IX Teil 2. Hierin sehen wir die Kompromisslösung eines erweiterten § 35a SGB VIII mit SGB-IX-Verweis und einem einheitlichen Leistungskatalog.
Aus dem Arbeitspapier sind zwei Herzstücke für uns elementar: der personenzentrierte Ansatz mit Bedarfsermittlung nach ICF und der inklusive Hilfeplan. Der inklusive Hilfeplan (sofern der Begriff „Hilfe“ an dieser Stelle Akzeptanz in der Behindertenhilfe findet) braucht eine Neuausrichtung. Bereits 11/2016 hat sich der BbP e.V. in einem gemeinsamen Positionspapier mit dem Runden Tisch der Pflegeelternverbände für einen interdisziplinären Hilfeplan ausgesprochen, um die Themen von Kindern und Familien mit erhöhten Teilhabe-bedarfen in der Kinder- und Jugendhilfe ankommen zu lassen.
Aus unserer Veröffentlichung zum Verfahrenslotsen (1/2022):
Inklusion hat einen gesellschaftlichen Mehrwert, und die Ausgestaltung der Jugendhilfe zu einem inklusiven System wird neue Impulse setzen, die ihrem zugrunde gelegten Geist der Lebensweltorientierung entsprechen.
Dies lässt sich anschaulich am inklusiv ausgestalteten Hilfeplan beschreiben. Das Teilhabeplanverfahren, mit dessen Instrument des Gesamtplanverfahrens aus der Eingliederungshilfe, ist in vielen Teilen vorbildlich und für die Entwicklung eines inklusiven Hilfeplans ein echtes Best-Practice-Beispiel.
Die Zusammenarbeit mehrere Träger, wie sie im Gesamtplan praktiziert wird, bildet die Grundlage für eine inklusive Hilfeplanung. Der dadurch entstehende multiprofessionelle Blick kommt nicht nur Kindern und Jugendlichen mit einer Behinderung zugute. Vielmehr wird die Ausgestaltung einer inklusiven Hilfeplanung einen konkreten Mehrwert für alle Akteure der Kinder- und Jugendhilfe mit sich bringen. Die Erfahrungen aus dem Gesamtplanverfahren können von den Verfahrenslotsen aufgegriffen und pädagogisch adaptiert in die inklusive Hilfeplanung eingeführt werden, sodass diese mehr noch als bisher zu einem lebensweltorientierten Entwicklungsinstrument für alle Kinder und Jugendlichen wird.
Wir sehen in dem Instrument des inklusiv ausgerichteten Hilfeplans und der Anwendung der ICF-orientierten Bedarfsermittlung in der Kinder- und Jugendhilfe eine Grundlage zum notwendigen Paradigmenwechsel. Es kann nur dann über Leistungen und deren Wirkung sicher entschieden werden, wenn sie personenzentriert ermittelt und bedarfsgerecht angewendet werden. Die Option 3 (Teilhabeplan- und Hilfeplanverfahren mit Verfahrensregelung für Hilfepläne aus Teil 1 SGB IX) halten wir für erstrebenswert. Wir gehen so weit, dass der Begriff „Hilfeplan“ dem Kinder- und Jugend-Teilhabeplan weichen muss.
Der Anwendung von ICF bei der Ermittlung erzieherischer Hilfebedarfe stehen wir offen gegenüber. Was für die Jugendhilfe abstrakt scheinen mag und vielleicht die „Pathologisierung“ der Hilfen zu Erziehung fürchten lässt, ist für uns gelebte Bedarfsermittlung. Wir sehen darin ein Herzstück der inklusiven Ausgestaltung.
Die gelebte Praxis zeigt immer wieder, dass die Jugendhilfe in der Bedarfsermittlung zu HzE-Leistungen mehr Transparenz benötigt. Leistungsberechtigte müssen nachvollziehen können, warum ihnen bestimmte Leistungen gewährt werden oder nicht. Ein häufig erlebtes Praxisphänomen ist, dass der Blick auf die Teilhabeleistungen in den HzE verstellt wird. Gerade bei Pflegeverhältnissen nach § 33 SGB VIII kommt es häufig zu Ablehnungen weiterer Teilhabeleistungen mit dem Vorwand, dass die Pflegefamilie bereits die umfassende Hilfe sei.
Dem Themenbereich des Erfordernisses von ärztlichen Gutachten stehen wir zwiegespalten gegenüber. Ärztliche Gutachten dürfen kein Muss für eine Leistungsberechtigung sein. Andernfalls würden weiterhin IQ-Werte und Diagnosen die Leistungsberechtigung definieren. Dies würde nicht der Personenzentrierung und Anwendung von ICF entsprechen. Jedoch sind Stellungnahmen von Ärzten, aber auch von Therapeuten und Pflegefachkräften für eine bedarfsgerechte Leistung und Teilhabe elementar.
Pflege und Teilhabe müssen zunächst in der Jugendhilfe ankommen. Der skizzierte Weg in diesem Positionspapier ist gangbar, an der Praxis orientiert und basiert auf Erfahrung aus 40 Jahren Selbstvertretung von Pflegekindern mit Behinderung und ihren Familien.
Bundesverband behinderter Pflegekinder e.V.
Papenburg, den 13.04.2023
Hier gibt’s unsere Stellungnahme als PDF [1,5 MB]